Liebe Tamara, ich freue mich sehr über Deine Teilnahme an diesem Interview. Vielen Dank dass Du Dir die Zeit nimmst! Der Circle of Compassion ist ja ein Verein, der sich mittels Strassenaktionen für die Würde und die Rechte der Tiere einsetzt. Wir sind aber noch viel mehr: Uns ist es ein Anliegen, einen Raum für nachhaltigen Aktivismus zu kreieren. Eine Form von Aktivismus, welche viele Aspekte und vor allem auch den Menschen selbst mit einbezieht.

Bitte erzähl unseren Aktiven und fleissigen Zuhören*innen doch erst einmal etwas über Dich.
Ich bin mit 28 auf Veganismus gestossen. Ich war damals schon Psychologin und habe promoviert. Es hat mich sehr beschäftigt, dass ich das Thema wie wir Tiere behandeln und für die Befriedigung der menschlichen Bedürfnisse nutzen selbst so viele Jahre umschifft habe. Das hat mich sehr erschrocken und als Psychologin wollte ich wissen, warum und ob es eine psychologische Erklärung gibt für dieses Phänomen, dass wir Menschen eigentlich sehr tierlieb sind und es uns ja eigentlich auch sehr wichtig ist, dass Tiere nicht geschädigt werden, dass wir uns gegen Tiermissbrauch einsetzen, mit Tieren in Form von Haustieren zusammenleben, dass die meisten von uns als Kinder mit Geschichten und Bilderbüchern von Tieren grossgeworden sind und wir trotzdem in einer Gesellschaft leben, die so viele Tiere konsumiert. Und wir damit dieses unermessliche Tierleid unterstützen und eigentlich auch dafür verantwortlich sind, weil wir mit unserem Konsumverhalten dazu beitragen. Deshalb habe ich angefangen, mich intensiv mit der Psychologie des Tiereessens zu beschäftigen, weil ich für mich eine Erklärung finden wollte, warum wir Menschen dies überhaupt tun können. Dabei bin ich bald auf die Arbeit von Melanie Joy gestossen und auf Karnismus. Ich habe mich darüber hinaus mit anderen wissenschaftlichen Arbeiten zu dem Thema auseinandergesetzt und selber angefangen, dazu zu forschen. Meine erste Arbeit dazu war tatsächlich, dass ich die Theorie des Karnismus von Melanie Joy mit amerikanischen Kollegen anhand sehr unterschiedlicher Stichproben in Amerika und Deutschland daraufhin untersucht habe, ob man diese Einstellungen auch quantitativ messen kann und konnte sagen: Ja, Karnismus lässt sich messen. Und eben nicht nur messen, sondern als psychologische Eigenschaft beziehungsweise Einstellung beschreiben und untersuchen. Für mich war erstmal allein das Verständnis wie Karnismus wirkt sehr wichtig, weil Karnismus die Erklärung ist, warum wir Menschen in dieser Dissonanz leben, dass wir auf der einen Seite nicht möchten, dass Tiere geschädigt werden, sie auf der anderen Seite aber essen. Er erklärt auch, wieso so viele Menschen diese soziale Norm aufrechthalten, obwohl sie eigentlich gegen ihr Wertesystem verstösst und warum so wenige Menschen überhaupt erst ein Bewusstsein dafür entwickeln, dass wir eben Tiere essen und kein Fleisch, keine Milch oder Eier.

Wobei kann Psychologie uns in unserem Leben als Veganer*innen helfen?
Zum einen, um unser nicht-veganes Umfeld besser zu verstehen. Weil wir dann viel effektiver kommunizieren können, anstatt die anderen, also unser nicht-veganes Umfeld als Bedrohung oder sogar als den Feind wahrzunehmen. Oder anstatt auch darunter zu leiden, denn ich finde, die Psychologie gibt ganz viele Tools und Methoden mit an die Hand, wie wir zum einen an der Kommunikation arbeiten können, aber auch was wir für uns als Veganer*innen tun können, um uns immer wieder auf das auszurichten, was wir erreichen wollen. Denn, um nicht an dieser nicht-veganen Gesellschaft zu verzweifeln, braucht man sehr viel Ausdauer und auch ganz viele motivationspsychologische Elemente. Also müssen wir schauen, wie wir uns nicht so schnell frustrieren lassen und am Ball bleiben, was wir tun können, um uns selbst zu managen, um mit unseren Emotionen umzugehen und wie wir mit dem Stress umgehen, damit wir nicht in den Burnout verfallen. Das sind alles psychologische Fragen und da kann Psychologie unglaublich gut dabei helfen, für sein Wohlbefinden einiges zu tun.

Ich durfte ja in den Genuss Deines Workshops „Psychologie für vegane Held*innen“ kommen. Erzähl doch mal, wie kam es zu diesem Workshop, und weshalb sollten wir alle den veganen Held*innen Teil in uns entdecken dürfen?
Weil Psychologie uns nicht nur in der Kommunikation mit unserem nicht-veganen Umfeld helfen kann, sondern uns Veganer*innen auch dabei helfen kann, gut auf uns aufzupassen, für uns motiviert zu bleiben und auch immer wieder genau zu schauen, was wir für unser Wohlbefinden tun können. Deshalb habe ich den Workshop „Psychologie für vegane Held*innen“ kreiert. Deswegen habe ich auch andere Workshops und das „Vegan Mind Training“ entwickelt. In all diesen online Trainings geht es immer darum, dass ich genau das vermitteln möchte, was jedes Individuum jeder Veganer, jede Veganerin für sich tun kann, um ein besseres Wohlbefinden für sich zu bewerkstelligen und besser klarzukommen in dieser nicht-veganen Welt. Nicht, um sich damit abzufinden, dass die Welt so ist wie sie ist – genau das Gegenteil ist der Fall. Sondern, um immer wieder die Kraft, Ausdauer und Motivation zu haben, um für die eigenen veganen Werte einzustehen. Den wenn es uns nicht gut geht, dann verliert jeder, nicht nur wir, sondern auch unser Umfeld und auch die Tiere. Aber wenn es uns gut geht, dann gewinnen eigentlich alle, denn dann sind wir Vorbilder für unser nicht-veganes Umfeld. Wir haben mehr Kraft, mehr Power, mehr Motivation für die Tiere. Dass es dir und mir gut geht, ist aus meiner Perspektive wirklich die Basis für alles.

Wissen aneignen vs. authentisch sein und sich zeigen – möchtest Du uns dazu noch etwas sagen?
Natürlich hat jede Veganer*in nach der Umstellung auf vegan erstmal das tiefgreifende Bedürfnis, sich viel Wissen anzueignen, allein schon über die Ernährungsfrage – was ist gesund, auf was muss ich achten? Ich habe gemerkt, dass das grosse Thema der allermeisten ist, dass sie sich in Gesprächen nicht verletzlich zeigen können ohne in eine Opferposition zu fallen. Das heisst, die allermeisten von uns versuchen, rein rational zu argumentieren, weil wir uns so auch ein Stück weit schützen, indem wir unsere Emotionen und was uns verletzt, nicht mit anderen teilen müssen.
Und meiner Meinung nach geht es mehr darum, dass wir schauen, wie wir uns mit uns selbst und unseren schweren Emotionen so sicher fühlen können, dass wir sie teilen können. Und auch andere über dieses Teilen dazu einladen können, die Welt mit unseren Augen zu sehen, aber ohne bei dem anderen Schuld- oder Schamgefühle auszulösen. Denn wenn wir unsere Emotionen mit einem latenten Vorwurf teilen, führt dies meistens zu Konflikten. Was natürlich nachvollziehbar ist, denn wenn wir selbst so einen Vorwurf haben, triggert das bei dem anderen direkt ein schlechtes Gewissen oder Schuldgefühle. Dies ist aus meiner Erfahrung meistens nicht das, was wir erreichen wollen, da es dazu führt, dass der andere abblockt und dichtmacht und nicht weiter bereit ist, das Gespräch mit uns weiterzuführen.

Du vertrittst die Ansicht, es sei nie eine rationale Entscheidung, ob wir Tiere essen oder nicht. Was bedeutet das für unseren Umgang mit (noch) Nicht-Veganer*innen?
Es ist tatsächlich keine rationale Entscheidung, denn wir haben uns nie dafür entschieden, Tiere zu essen. Wir sind alle in dieser karnistischen Norm aufgewachsen, die uns beigebracht hat, dass Tiere essen normal, natürlich und notwendig ist. Und die meisten Menschen haben sich eben nicht bewusst dafür entschieden, ob sie Tiere essen oder nicht, sondern halten jetzt eine Gewohnheit aufrecht aufgrund ihrer Überzeugung, dass es eben so sein muss. Deswegen bedeutet das für mich, dass wir in der Auseinandersetzung und im Umgang mit Nicht-Veganern viel mehr über diese psychologischen Mechanismen aufklären sollten, die bei uns allen ablaufen. Dafür ist es aber die Grundlage, dass ich erstmal verstanden habe, was die psychologischen Mechanismen sind und wie sie bei mir selbst wirken, bevor ich meinem nicht-veganen Umfeld erklären kann, welche psychologischen Mechanismen bei ihm wirken.

Die meisten von uns wissen, dass Menschen die Tiere essen dies aufgrund Ihrer karnistischen Prägung tun. Was bedeutet jedoch das Thema Karnismus für uns, die wir ja vermeintlich dieses brutale Glaubenssystem hinter uns gelassen haben?
In dem Moment wo wir immer noch gegen Karnismus in den Kampf ziehen, dadurch, dass wir zum Beispiel andere Menschen abwerten oder das Gefühl haben, unser nicht-veganes Umfeld sei in irgendeiner Form böse, haben wir erstens Karnismus nicht so richtig verstanden und zweitens bedeutet das, dass Karnismus immer noch in uns wirkt. Vielleicht nicht mehr so, dass wir uns diesem hingeben, aber dass wir noch in Rebellion und im aktiven Kampf gegen Karnismus sind. Meine persönliche Überzeugung ist, dass wir den Kampf nur verlieren können. Schliesslich wollen wir keinen Gegner in unserem nicht-veganen Umfeld finden, sondern wir wollen Verbündete. Das heisst, die viel bessere Frage ist, wie können wir unser nicht veganes Umfeld für unsere vegane Sache als Verbündete gewinnen. Das ist meiner Meinung nach darüber möglich, dass wir sie über Karnismus und das karnistische System und die Psychologie dahinter aufklären. Das setzt, wie gesagt, voraus, dass wir uns mit unseren eigenen psychologischen Mechanismen schon auseinandergesetzt haben.

Was sind Gründe dafür, dass uns manchmal Gespräche mit anderen über Veganismus so schwer fallen? Weshalb ist es für viele einfacher, mit fremden Menschen darüber zu sprechen, als im näheren Umfeld (Familie, Freunde, etc.)
Das liegt daran, dass viele Kränkungen, Themen emotionaler Art vor allem bei Familien und Freunden noch schwerer wiegen, weil wir geliebt werden möchten von diesen Menschen. Das heisst, da kommen ganz viele verschiedene Ebenen aufeinander, nicht nur das Thema Veganismus und Karnismus und wie wir uns ernähren, sondern es spielen ganz viele Beziehungsthemen mit hinein, Themen von früher, bei denen wir uns sowieso schon missverstanden fühlen von unserer Familie oder wo wir Angst davor haben, dass wir jetzt nicht mehr dazu gehören. Vielleicht haben auch die anderen Angst, dass wir sie jetzt in irgendeiner Form jetzt deswegen ablehnen. All dies sind Gründe, die es vor allem mit unseren Lieben so schwer machen, über dieses Thema zu sprechen.

In Deinem Workshop thematisierst Du auch das Fleisch-Paradox, in dem der Kopf eigentlich weiss, worum es geht, der Mensch aber trotzdem beim Konsum tierischer „Produkte“ bleibt, weil es weniger Energie benötigt.Weshalb fällt es Menschen bloss so schwer, aus alten Gewohnheiten auszubrechen?
Das hat zum einen mit dem mangelnden Bewusstsein zu tun. Das heisst, das Fleischparadox ist nicht immer präsent, sondern die Menschen sind sich darüber meistens nicht bewusst, weil sie karnistische Überzeugungen haben und weil wir in einer karnistischen Gesellschaft leben, die all diese Bewusstheit über das Tierleid sozusagen unter den Teppich kehren. Diese Mechanismen machen es viel leichter, sich nicht damit auseinanderzusetzen. Deswegen ist es auch so schwer, aus diesen alten Gewohnheiten auszubrechen. Und es geht eben nicht nur um Gewohnheiten. Menschliche Gewohnheiten oder Automatismen sind ohnehin schon schwer zu durchbrechen, aber in dem Zusammenhang mit Karnismus und Veganismus geht es auch noch darum, dass ganz viele Ängste an das Aufgeben dieser Gewohnheiten geknüpft sind. Das heisst, die Menschen haben nicht nur Angst, auf einen guten Geschmack zu verzichten, sondern vielleicht auch, nicht mehr dazuzugehören, dass es in ihrem näheren Umfeld zu Konflikten führt, dass das Thema Essen und Ernährung vielleicht schwierig ist, vor gesundheitlichen Aspekten etc. Das heisst, es fällt den Menschen nicht nur schwer, aus alten Gewohnheiten auszubrechen, sondern es ist vor allem so schwer, weil für das nicht-vegane Umfeld so viele Ängste an Veganismus geknüpft sind.

Ich habe in Deinen Workshops immer wieder gehört, wie wichtig Selbstfürsorge und eine Psychohygiene sind. Das ist ein Thema, das meines Erachtens gerne erst als letztes betrachtet und angegangen wird. Weshalb fällt uns das so schwer, und wieso sollten wir uns überhaupt damit befassen?
Es geht darum, dass unser Wohlbefinden die Basis für all unser Wirken ist. Es ist nicht nur ein Phänomen nicht im Veganismus, sondern generell in unserer Gesellschaft, dass es noch nicht wirklich angekommen ist, dass unser Wohlbefinden, vor allem das psychische, die Grundlage für alles in unserem Leben ist, für unser Wirken, für unsere Beziehungen: Alles beginnt in dir.

Hast Du den Leser*innen vielleicht Tipps (aus psychologischer Sicht) für eine erfolgreiche Kommunikation?
Eine erfolgreiche Kommunikation ist immer dann am besten möglich, wenn man sich mit sich sicher fühlt. Das bedeutet, dass man seine Gefühle nicht unterdrücken muss, sondern im Einklang damit ist, dass man traurig oder wütend oder verletzt ist. Das heisst, je sicherer du dich mit diesen Gefühlen fühlst, je mehr du dir selbst vertraust, je mehr du dich öffnen kannst, zu dir und deinen Gefühlen und was dich umtreibt stehen kannst, umso erfolgreicher wird deine Kommunikation auch über deine veganen Werte mit deinem Umfeld sein. Das heisst, auch da wieder: Eine erfolgreiche Kommunikation kann dann gelingen, wenn es dir damit gut geht. Das ist dann nicht nur in dem Moment wichtig, sondern es ist auch nachhaltiger. Es bringt nichts, wenn wir so kommunizieren und ausbrennen, weil wir die ganze Zeit denken, wir müssten irgendjemand anderes sein.

Tamara, wir neigen uns leider bereits dem Ende dieses Interviews zu. Eine letzte Frage noch an Dich: Was möchtest Du unseren Aktiven sowie den Zuhörerinnen und Zuhörern noch gerne mit auf den Weg geben?
Es beginnt alles in dir. So wie du die Veränderung in dir einläuten kannst dadurch, dass du vegan lebst, ist auch die Veränderung bereits in dir angelegt für inwiefern du als Veganer*in ein positives und anziehendes Vorbild bist für andere. Das heisst, das Allerwichtigste ist, dass es dir als Veganer*in gut geht und dich wohl in deinem Leben fühlst. Und wenn du merkst, dass du damit Schwierigkeiten hast und es dir nicht gelingt oder irgendwie schwerfällt, es dir gut gehen zu lassen, dann ist mein ultimativer Tipp: Beginne damit und tue etwas für dich. Versuche, diese Themen für dich zu lösen. Schau hin, warum dich gewisse Themen triggern, warum dich Sachen verletzen. Die allermeisten Themen dazu liegen ein bisschen weiter zurück, die meisten in der Kindheit. Es ist egal, ob du hinschaust oder nicht, es beeinflusst dich die ganze Zeit. Das heisst, wenn du hinschaust, hast du zumindest die Möglichkeit, diese Themen für dich anzugehen und aufzulösen.

Das andere, was ich euch sagen möchte, ist: Ich bedanke mich sehr herzlich bei euch, dass ihr vegan lebt und dass ihr euch für Veganismus einsetzt. Ihr seid für mich wirklich die Pioniere in unserer Gesellschaft. Herzlichen Dank dafür!